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Zum Erstschlag bereit

german foreign policy
31 Oktober 2022

USA wollen bereits im Dezember ihre Atombomben in Europa durch modernere ersetzen – auch in Deutschland. Neue US-Nuklearstrategie schließt einen Erstschlag explizit nicht aus.

WASHINGTON/BÜCHEL (Eigener Bericht) – Die Vereinigten Staaten beschleunigen die Modernisierung ihrer Nuklearwaffen in Europa und werden schon in wenigen Wochen mit der Stationierung der neuen, präziseren und flexibleren Atombomben des Typs B61-12 beginnen. Darüber haben US-Regierungsmitarbeiter einem Medienbericht zufolge NATO-Vertreter Mitte Oktober in Kenntnis gesetzt. Ersetzt werden demnach die gut 100 Bomben, die in fünf europäischen NATO-Staaten eingelagert sind, darunter Deutschland. Zugleich bestätigt die Biden-Administration in ihrer neuen, am Freitag vorgelegten Nuklearstrategie, dass sie einen atomaren Erstschlag explizit nicht ausschließt. Vielmehr hält sie sich einen nuklearen Angriff für den Fall offen, dass „vitale Interessen“ der USA oder verbündeter Staaten bedroht sind – „unter extremen Bedingungen“, wie es heißt; das kann auch ein konventioneller Angriff sein. Mit je eigenen Atomkriegsübungen haben in der vergangenen Woche die NATO und Russland nukleare Operationen geprobt – die NATO dabei unter Beteiligung der Bundeswehr. Unterdessen bringt eine führende deutsche Tageszeitung zum wiederholten Mal die Forderung nach einer deutschen Bombe ins Gespräch.

Beschleunigte Modernisierung

Die Vereinigten Staaten beschleunigen die Modernisierung ihrer in Europa stationierten Nuklearwaffen und werden noch in diesem Jahr beginnen, die Atombomben des Typs B61, die unter anderem in Büchel (Eifel) eingelagert sind, durch die neue Version B61-12 zu ersetzen. Dies berichtet das Nachrichtenportal Politico, das sich im Besitz der Axel Springer SE befindet.[1] Demnach informierten US-Regierungsmitarbeiter im Oktober in Brüssel Vertreter der anderen NATO-Staaten, die Maßnahme solle bereits im Dezember umgesetzt werden. Sie betreffe alle europäischen Standorte, an denen US-Atomwaffen eingelagert seien. Bei den Standorten, die derzeit Berichten zufolge rund 100 US-Bomben beherbergen, handelt es sich um Büchel, Kleine Brogel (Belgien), Volkel (Niederlande), Ghedi, Aviano (Italien) sowie İncirlik (Türkei). Die B61-12 könnten mit den bisher dafür vorgesehenen Kampfjets an ihr Einsatzziel geflogen werden, heißt es nun – darunter die Tornados, die die Bundeswehr gegenwärtig verwendet, aber auch die US-amerikanischen F-35, die Berlin beschaffen will und die spätestens bis zum Januar kommenden Jahres für die neuen Atombomben zertifiziert werden sollen.

Die vitalen Interessen des Westens

Der beschleunigte Austausch der B61 durch die B61-12 ist unmittelbar vor der Präsentation der neuen US-Nuklearstrategie am vergangenen Donnerstag bekanntgeworden. Die neue Strategie (Nuclear Posture Review) hält, wie Experten feststellen, im Wesentlichen an den Elementen der Trump’schen Nuklearstrategie fest.[2] So schließt sie explizit jeden Verzicht auf einen nuklearen Erstschlag aus: Ein solcher Verzicht, wie ihn etwa China erklärt hat, stelle für die Vereinigten Staaten „ein inakzeptables Risiko“ dar, heißt es in dem Papier.[3] Ausdrücklich heißt es, die USA zögen „den Einsatz nuklearer Waffen unter extremen Bedingungen“ in Betracht, falls „ihre vitalen Interessen“ oder diejenigen ihrer Verbündeten und Partner bedroht seien; dies kann demnach auch der Fall sein, wenn der Feind keinen nuklearen Angriff eingeleitet hat. „Die US-Nuklearstreitkräfte“ blieben auch für die NATO, ihre Abschreckung und ihre Verteidigung „wesentlich“, erklärt die Biden-Administration. Dabei gelte es nicht zuletzt, „die nuklearen und die nicht-nuklearen Fähigkeiten und Konzepte der NATO“ in Zukunft enger zu verzahnen.

Atomkriegsmanöver

Praktisch trainiert hat die NATO den Atomkrieg in den vergangenen beiden Wochen – mit ihrem jährlich abgehaltenen Manöver Steadfast Noon, das am gestrigen Sonntag offiziell zu Ende ging. Beteiligt waren rund 60 Flugzeuge aus 14 NATO-Staaten, darunter Deutschland; neben den Kampfjets, die im Rahmen der sogenannten nuklearen Teilhabe Atombomben abwerfen sollen, waren etwa auch Überwachungs- und Tankflugzeuge sowie viele Soldaten am Boden involviert.[4] Protest hat ausgelöst, dass die NATO das Atomkriegsmanöver trotz des Ukraine-Kriegs durchgeführt hat – schließlich werden exponierte Militärübungen oft bereits aus Gründen weitaus geringerer Bedeutung abgesagt; dies ist etwa, wie der einstige NATO-Oberbefehlshaber James Stavridis berichtet, der Fall, wenn ein US-Präsident zu einem Gipfeltreffen reist, an dem auch ein russischer Präsident teilnimmt: Derartige Treffen sollten nicht durch einen nie vollständig auszuschließenden Manöverzwischenfall gestört werden, erläutert Stavridis.[5] Diesmal habe das westliche Militärbündnis freilich einer Demonstration der Stärke Vorrang vor Sicherheitsüberlegungen gegeben.

Risikowillig

Stavridis räumt die Risiken, die mit der Durchführung von Steadfast Noon in der aktuellen Situation verbunden waren, offen ein. Bei der NATO werde man sorgsam beobachtet haben, wie Russland reagiere, erläutert der Ex-Oberbefehlshaber des Militärbündnisses – so etwa, ob Moskau die NATO-Machtdemonstration zum Anlass nehme, seinerseits Manöver auf einem höheren Eskalationsniveau durchzuführen oder gar Atomwaffen in der russischen Exklave Kaliningrad zu stationieren.[6] In der Tat hat Russland seinerseits in der vergangenen Woche seine nuklearen Fähigkeiten bei dem ebenfalls regelmäßig abgehaltenen Atomkriegsmanöver Grom unter Beweis gestellt. Berichten zufolge probten die russischen Streitkräfte dabei die Reaktion auf einen Atomangriff, der gegen Russland gerichtet war. Dabei feuerten sie land- und seegestützte atomwaffenfähige Interkontinentalraketen von Plessezk im russischen Norden sowie von einem Atom-U-Boot in der Barentssee ab; außerdem brachten strategische Bomber atomar bestückbare Cruise Missiles auf den Weg.[7] Faktisch ist damit in den vergangenen Tagen das Szenario eines alles umfassenden Atomkriegs in Europa vollständig durchexerziert worden.

Die Eskalationsgefahr wächst

Dabei erhöht die Stationierung der modernisierten US-Atombomben vom Typ B61-12 in Europa laut Einschätzung der russischen Regierung die Atomkriegsgefahr erneut. So wies der stellvertretende russische Außenminister Alexander Gruschko darauf hin, dass die B61-12 präziser ist und mit stark abgestufter, bei Bedarf auch massiv reduzierter Sprengwirkung eingesetzt werden kann. Damit werde sie zur „Schlachtfeldwaffe“ und senke die Schwelle zur nuklearen Konfrontation.[8] Genau davor warnen auch Kritiker im Westen seit Jahren.[9] Gruschko betonte zudem, Moskau werde in Rechnung stellen müssen, dass in Zukunft der US-Kampfjet F-35 die in Europa gelagerten US-Atombomben an den Einsatzort bringen soll. Der F-35 verfügt als Kampfjet der zur Zeit modernsten, fünften Generation über diverse Eigenschaften, die zum Beispiel der alternde Tornado-Jet nicht aufweist, mit dem zur Zeit die Bundeswehr einen etwaigen Atomangriff plant. Die Tatsache, dass die B61-12 viel präziser und damit weitaus gezielter eingesetzt werden könne, besitze auch deshalb „strategische Bedeutung“, erläuterte gestern der russische Botschafter in Washington, Anatoli Antonow, weil die Lager, in denen Russlands taktische Nuklearwaffen gebunkert seien, sich in relativer Reichweite der US-Atomstandorte in Europa befänden. Damit steigt das Eskalationsrisiko.

Die deutsche Bombe

Davon unabhängig legt eine führende deutsche Tageszeitung zum wiederholten Mal die nukleare Aufrüstung der Bundesrepublik nahe. Wie es in einem Beitrag heißt, den die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung gestern auf ihrer Titelseite unter der Überschrift „Brauchen wir die Bombe?“ publizierte, könne man zwar „für völlig verrückt ... erklärt“ werden, „wenn man vorschlägt, dass Deutschland sich ... einen eigenen Atomschirm anschaffen“ solle.[10] Doch sei es „die schlechteste Wahl“, nicht in Rechnung zu stellen, dass unter einer zweiten US-Präsidentschaft von Donald Trump oder unter einer französischen Präsidentschaft von Marine Le Pen ein transatlantischer oder europäischer „Atomschirm“ für die Bundesrepublik nicht mehr gewährleistet sei. Die „strategische Selbstvergewisserung“, von der in Berlin gesprochen werde, dürfe „nicht Wortgeklingel bleiben“.[11]

 

[1] Bryan Bender, Paul McLeary, Erin Banco: U.S. speeds up plans to store upgraded nukes in Europe. politico.com 26.10.2022.

[2] Emma Claire Foley: Biden’s nuclear posture review maintains nuclear status quo. thebulletin.org 28.10.2022.

[3] 2022 Nuclear Posture Review. Washington 2022.

[4] S. dazu Das NATO-Atomkriegsmanöver.

[5], [6] James Stavridis: NATO’s Nuclear War Games Are a Risk It Needs to Take. washingtonpost.com 20.10.2022.

[7] Trevor Filseth: Russia Simulates ‘Massive Nuclear Strike’ During Drills. nationalinterest.org 27.10.2022.

[8] Russia Says U.S. Lowering ‘Nuclear Threshold’ With Newer Bombs In Europe. chahidvip.com 29.10.2022.

[9] S. dazu Die Atomkriegsübung der Bundeswehr.

[10] Berthold Kohler: Brauchen wir die Bombe? Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung 30.10.2022.

[11] S. auch Griff nach der Bombe, Die deutsche Bombe und Griff nach der Bombe (III).

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